Edwin Scharff - von Gottfried Sello

Classen Verlag 1956

Als dieses Buch geplant wurde, lebte Edwin Scharff noch in seiner Arbeit, bewegten ihn neue Aufgaben, die an ihn herangetragen wurden. Der Tod hat seinem Planen und Schaffen ein Ende gesetzt.
Am 18. Mai 1955 ist Edwin Scharff; 68 Jahre alt, gestorben.
Der Verleger Eugen Claassen war ihm nur wenige Wochen im Tode vorausgegangen.
Beide, der Bildhauer und der Verleger, haben diesen Bildband in monatelanger Arbeit bis in alle Einzelheiten vorbereitet.
Das Ganze, das Gesamtwerk von Edwin Scharff soll hier zum erstenmal dargestellt werden.
Frühere Publikationen galten einzelnen Teilen: dem Frühwerk (bis 1920), den Gestaltungen aus dem christlichen Themenkreis, dem Zeichner von Pferden und Reitern, dem Porträtisten oder einzelnen Werken: den großen Steinfiguren, der Marienthaler Kirchentür.

Die Auswahl und die Anordnung der Abbildungen hat Edwin Scharff noch selbst vorgenommen und bei der Fülle der in fünf Jahrzehnten entstandenen Arbeiten nur die wichtigsten Werke aus allen Schaffenszeiten berücksichtigt.

Außer Betracht bleiben mussten die Arbeiten, die nach 1933 oder während des zweiten Weltkrieges zerstört wurden, die im Ausland verschollen oder in Ostdeutschland unerreichbar geworden sind (die wenigen Fälle, in denen auf Abbildungen zerstörter Werke zurückgegriffen wurde, sind im Register vermerkt).

Bei der Anordnung der Abbildungen hat Scharff es vermieden, die Werke nach Technik, Material oder Gegenstand zu gliedern. Neben der Maske steht das Relief der  Bogenschützen, neben dem Liebermann-Porträt eine Statue, neben dem Relief  Liebespaar  eine Zeichnung  Pferde.
So wird der Blick vom Einzelnen auf das Ganze gelenkt. Und man spürt in den Gegenüberstellungen eine Korrespondenz, überraschende formale oder thematische Entsprechungen, mitunter auch Gegensätze.

 Ebensowenig wurde eine strenge Chronologie eingehalten. Eine vorwiegend chronologische Betrachtung ist nur sinnvoll bei Künstlern, deren Werk sich als das Nacheinander verschiedener Stilperioden begreifen lässt, die aus innerem Zwang oder in der Auseinandersetzung mit den wechselnden Zeitströmungen "ihren" Stil wandeln.
Edwin Scharff gehört nicht zu ihnen. Seine frühen wie seine späten Arbeiten sind so sehr Ausdruck der gleichen bildnerischen Konzeption, dass die Frage nach der Entwicklung und nach dem Chronologischen zurücktritt.
Es wäre Willkür, von verschiedenen "Stilphasen" zu sprechen. Um dennoch die Orientierung und die Einordnung einzelner Arbeiten zu erleichtern, kann sein Schaffen nach biographischen Gesichtspunkten in vier Abschnitte gegliedert werden: München 1902-1922 (wobei das Jahr 1913 mit der Rückkehr aus Paris das Ende der Lehr- und Wanderjahre bedeutet), Berlin 1923-1933, Düsseldorf 1934-1945, Hamburg 1946-1955.

Man muß die Rundskulpturen aus verschiedenen Zeiten nebeneinander sehen: die Kleine Sitzende  von 1914, die Stehende Frau  von 1927, die Kleine Stehende von 1937, die Quellnymphe  von 1949 , Gestalten, die zeitlich weit auseinanderliegen, aber von der gleichen schöpferischen Kraft geprägt sind. Sie stehen gelassen und ungezwungen, ihre Haltung ist aufrecht und unbefangen: sie wissen sich allein, sie haben kein Gegenüber, von dem sie sich beobachtet glauben oder mit dem sie Zwiesprache halten. Sie sind mit nichts beschäftigt.
Sie stellen weder "Badende" noch  "Sich Entkleidende" dar, weder "Schreitende" noch "Tänzerinnen". Es werden keine Vorgänge geschildert: nirgends gerät die Plastik ins Erzählen. Die Gestalten sind unbewegt. Sie sind im Zustand der Ruhe.
Es ist aber nicht die starre Unbeweglichkeit archaischer Plastik, auch nicht ein erschöpftes Ausruhen von der Bewegung; es ist die Ruhe, die aller Bewegung vorausgeht und sie ermöglicht. Das runde, in sich ruhende Dasein der Gestalt ist ein Zustand der Vollkommenheit, Bewegung ist peripheres Geschehen, Die Mitte bleibt unbewegt, und auf diese ruhende Mitte ist die Figur im Ganzen und in allen ihren Teilen bezogen.
Daher die klare Betonung der Mittelachse, die fast immer senkrecht verläuft. Wird sie, -  wie bei der Selene - zur Schräge, dann nimmt sie die ganze Figur in die Neigung mit: der Kopf wird nach vorn gebogen, die Gewandfalten laufen in runden Linien, die Gestalt wird zur ruhenden Sichel des Mondes.
Die Glieder halten sich nahe am Körper. Nirgends begegnet man der pathetischen Geste ausgebreiteter oder erhobener Arme. Häufig werden die Arme auf dem Rücken verschränkt, und wenn sie sich,  wie bei der Stehenden und bei der Sitzenden seitlich abwinkeln, dann werden sie von einer magnetischen Kraft zur Mitte zurückgezogen. Die Beine stehen dicht beieinander.
Weil die Glieder sich nicht in ausladenden Bewegungen von der Mitte entfernen, verläuft der Umriss der ganzen Figur in großen, klaren Linien. Die Form ist geschlossen. Hohlräume werden vermieden, und das plastische Volumen gewinnt eine solche Dichte, daß es unangreifbar erscheint. In ihrer festen Umgrenzung behauptet die Gestalt sich gegen alles Fließende, Drängende, Auflösende des Raumes ringsum.
Es ist als ob der Raum an diesem festgefügten, geschlossenen, tektonischen Gebilde abprallte. So unbedingt bejaht die Skulptur ihren Eigenwert, so unmissverständlich bringt sie sich in ihrer kraftvollen, körperhaften Dinglichkeit zur Geltung. Ruhig, stolz, gelassen stehen die Figuren im Raum, sich ihm verschließend und ihn beherrschend.

Bei Scharffs letzter Rundskulptur, der überlebensgroßen Pandora, ist das Verhältnis von Figur und Raum noch einmal exemplarisch dargetan. Und die Gestalten stehen, weil sie untätig, weil sie nicht "in Bewegung" sind, gleichsam außerhalb der Zeit.

Das zeitliche Geschehen ist in die plastische Gestalt genau so wenig hineingenommen wie das räumliche Element. Bewegte Plastik gibt den Augenblick, den dramatischen Höhepunkt, sie reißt den Betrachter in ein Geschehen, sie impliziert die Vorstellung eines Vorher und eines Nachher; sie kann sich nicht auf das Gegenwärtige beschränken, weil das Sichtbare nur Ausschnitt aus einer Folge von Bewegungsstadien, nur ein Moment aus einem Ablauf ist, den der Betrachter mit vollziehen muss.
Bei Scharff dagegen ist die Plastik in keine Bewegung gezwungen, die nach Veränderung drängt. Ihre Situationen —ihre Art zu stehen, zu sitzen, zu liegen — sind so allgemein, dass sie keine Vergangenheit und keine Zukunft erfordern, sie erfüllen sich in ihrer sichtbaren Gegenwart.
Daraus entsteht die Vorstellung von Dauer, von ruhender Zeit, in welcher Bewegung und Handlung zugunsten des absoluten Seins gelöscht sind. Die Gestalten sind zeitlos im Sinne einer permanenten Gegenwärtigkeit, wie sie den griechischen Statuen der klassischen Periode eigentümlich ist und in den sogenannten Präsenzfiguren der italienischen Renaissance wiederkehrt.

Die Plastik selbst, und nicht nur ihr Gegenstand, der dargestellte Mensch, ist im Zustand der Ruhe. Sie ist ausgewogen. Die Figur ins Gleichgewicht bringen ist für Scharff die erste Aufgabe des Bildhauers. Das bedeutet: die Massen in ihrem Gewicht richtig verteilen, den stützenden Teilen nicht mehr zumuten, als sie zu tragen vermögen, das Schwere und das Leichte zueinander in Beziehung setzen, bis sich die Gegensätze im Begriff des Mühelosen aufheben.

Das Mühelose, das Lässige der Scharffschen Gestalten resultiert nicht aus ihrer so ,natürlich‘ anmutenden Haltung, sondern aus ihrer plastischen Ausgewogenheit. Statuarische Gesetze bestimmen den Bau und die Proportionen der Figur und leiten ihre Gültigkeit nicht aus der Übereinstimmung mit der empirischen Wirklichkeit her.

Die Glieder sind schwer, voll, gerundet, und wenn sie sich voluminös verbreitern, so geschieht das nicht, um das Spiel der Muskeln nachzubilden: die Formen selber schwellen und wachsen und werden gebändigt, wobei sie ihrem inneren Rhythmus folgen, ohne nach anatomischer ,Richtigkeit‘ zu fragen.

Auch der breit angesetzte, sich nach oben verjüngende Hals gehört zu dem eigenen Kanon der Scharffschen Plastik. Er betont das Säulenhafte des menschlichen Körpers und trägt als rundes, krönendes Ornament den apfelhaft klein gebildeten Kopf.

Das Antlitz wird nur angedeutet; auch bei Händen und Füßen, bei Haar und Gewändern findet sich dieses behutsame, für Scharff charakteristische Zurückdrängen aller Details. Denn das Detail lenkt ab, ist aufdringlich, stört die Ruhe. Um der großen geschlossenen Form willen muss es zurücktreten. Obgleich aber das Gesicht mit den blicklosen Augen nur angedeutet, nicht individuell geprägt ist und im Ausdruck allgemein bleibt, stimmt es zu dem Ganzen der Figur.

Man betrachte den Torso der Kore neben der Kore: das Antlitz wirkt wie die Bestätigung dessen, was der Torso meint, ohne ihm etwas Neues hinzuzufügen. Scharffs Gestalten sind unpathetisch, ohne Leidenschaften und ohne Affekte.
Das Lyrische, das Dramatische, das Expressive ist ihnen fremd. Sie wollen keine Gefühle, keine ,Tätigkeiten der Seele‘ darstellen, sondern Zustände.
Statuen wie die Kore, die  Quellnymphe, die Pandora sind aus der Sphäre des Persönlichen und Privaten ins Objektive hinausgehoben, in eine Region, in der Freiheit und Würde wieder der natürliche Zustand des Menschen sind.Von hier aus gewinnt das ,Gegenständliche‘ bei Scharff besondere Bedeutung.
Schon mit der Wahl seines Gegenstandes trifft er eine künstlerische Entscheidung. Der Gegenstand ist zwar bildsam, aber nicht neutral; der Bildhauer muss das ihm Gemäße finden, das seinen eigenen Absichten entgegenkommt.
Das Werk von Scharff kennt nicht den Epheben, das kindliche Mädchen, den Alternden -  Gestalten, die nach bewegter, gefühlsbetonter Darstellung drängen und darum in allen nicht-klassischen Perioden -  im Hellenismus, im Barock, im 19.Jahrhundert -  bevorzugt wurden.

Gegenstand der Scharffschen Plastik ist der voll entwickelte Mensch, gleich weit entfernt von Entfaltung und Verfall, der Mensch in der Mitte, im Stadium der Reife, mit der sich wie von selbst die Vorstellung der Dauer, der Formbeständigkeit verbindet.
 Frauen vor allem sind es, die Scharff dargestellt hat. Im weiblichen Körper findet er das in sich ruhende Dasein gleichsam vorgeformt, während der Mann, der männliche Körper nach Aktion, nach ausgreifender Bewegung verlangt.
Nur muss dieser Gegensatz als ein formales, nicht als ein psychologisches Phänomen verstanden werden. In den wenigen männlichen Figuren aber wird das Bewegungselement bewusst dem Statuarischen untergeordnet.
Der Junge Athlet (Scharffs erste lebensgroße Figur, mit der sein eigentlicher Weg als Bildhauer begann) ist zwar ein Schreitender, aber der Schritt ist gemessen, die Haltung gelassen, und die Spannung ist - in den straff durchgedrückten und kräftig herausmodellierten Knien -  nur angedeutet.
Sogar der Reiter, ein Motiv, das zu leidenschaftlicher Bewegung und gesteigerter Aktivität herausfordert, wird in der Bronzefigur von 1950 zu einem Bild der Ruhe.
Der Umriss ist stark vereinfacht, das Gefüge der Waagerechten und Senkrechten klar betont. jede Linie, jede Form an Pferd und Reiter sind ,angeschaut‘, aus intensiver Beobachtung gewonnen: die schlanken Fesseln, die aufgestellten Ohren des Pferdes, die Hand des Reiters, die sich schwer auf die Kruppe stützt, um die Vorwärtsdrehung des Körpers aufzufangen.
Aber bei aller Genauigkeit sind sie so viel und so wenig ,Natur‘ wie der Hals des Pferdes, der mit Bogenlinien von strenger, makelloser Reinheit umschrieben und zu einer geometrischen Figur vereinfacht wird, wie das ganze Reiterbild, wie alle Scharffschen Gestalten: sie haben den Glanz des Lebendigen, ohne Leben vorzutäuschen. Sie halten die Mitte zwischen Wirklichkeit und Abstraktion.

Freilich  der Grad der Abstraktion ist verschieden. Er ändert sich mit jedem Werk, mit jeder Aufgabe. Nicht im Sinne einer Entwicklung: Scharff hat sich weder dem Zug der Zeit folgend, von ,naturalistischen‘ Anfängen zu abstrakter Gestaltung entwickelt, noch ist er den umgekehrten Weg gegangen.
Man kann in seinem Schaffen nicht  -  wie es vielfach geschehen ist -  zwischen naturnahen und naturfernen Perioden unterscheiden.

Daß beide Gestaltungsweisen nebeneinander hergehen, zeigen die zeitlich benachbarten Frühwerke  Junger Athlet (1912/13) und Kleine Sitzende (1914), die im Verhältnis zu dem Jungen Athleten weitgehend abstrahiert erscheint.
Aber Abstrahieren bedeutet für Scharff nichts anderes als: Naturformen auf ihre plastischen Grundwerte zurückführen, körperliche Funktionen als plastische Funktionen auffassen, den Gegenstand in reine Skulptur verwandeln.
Selbst die am weitesten abstrahierten Figuren enthalten noch immer ,Natur‘, und in den naturnahen Statuen  Junger Athlet (1912/13),  Torso (1932) und Reiter (1950) geht es um plastische Gestaltung.
Die heutige Neigung, Abstraktion gegen ,Naturnähe‘ und ,Naturalismus‘ auszuspielen und das eine ,modern‘, das andere ,rückschrittlich‘ zu nennen, erweist sich gerade bei dem Werk von Edwin Scharff als fragwürdig.
Begriffe wie ,Naturferne‘ und ,Naturnähe‘ sind keine geeigneten Kategorien, um plastische Werte zu messen. Noch viel weniger hängt die Aktualität eines Werkes, seine Bedeutung für die Zeit, von seiner ,Abstraktheit‘ ab. Sie beruht auf der Kraft, die es ausstrahlt und der sich der Einzelne, wenn sie ihn erreicht, nicht entziehen kann.

Die Reiterfigur von 1950 ist ein Bild der Ruhe - so voll Leben, dass es das Naturbild wachruft, und so sehr Skulptur, dass es den realen Reiter vergessen lässt.
Wesentlich für diesen Gesamteindruck ist die Art, wie Figur und Sockel zusammengehören. Der breite Pfeiler stützt den Pferderumpf, betont die Mittelachse und zerstört zugleich jede naturalistische Illusion; er hält die Figur zusammen und hält sie hoch.
Den Sockel hat Scharff fast immer, und durchaus nicht nur bei den ,Denkmälern‘, in die Gestaltung miteinbezogen: er gibt der Figur Halt und schafft Distanz.
Das Material der Scharffschen Plastik, nicht ausschließlich, aber am häufigsten und am liebsten von ihm verwendet, sind Stein und Bronze. Nicht das Holz, der ideale Werkstoff der Gotik, der die Kanten und Geraden, die Winkel und starren Brechungen, das Spitze und Knittrige begünstigt.
Das Hölzerne und das Gotische sind Scharff wesensfremd. Er hat nur zwei Arbeiten in Holz geschaffen, einen Corpus und einen Johannes, der als einziger von den geplanten Sieben Nothelfern  vollendet wurde.
Beide sind während des zweiten Weltkrieges ,in der Katakombe‘, im Kellergewölbe einer ausgebrannten Kirche, entstanden, als er das Material nicht wählen konnte.
Der Stein dagegen zwingt zur großen geschlossenen Form, er wirkt durch seine Masse, er widersetzt sich jeder heftigen Bewegung. Wie Scharff den Stein behandelt, wie er der materialen Struktur Rechnung trägt, zeigen die drei großen Marmorwerke der Berliner Zeit, die  Parze (1922-1926), die Hockende (1926-1928) und die Pastorale  (deren Vorstudien bis ins Jahr 1921 zurückreichen und die 1939 in Düsseldorf vollendet wurde): Figur und Sockel bilden einen mächtigen Block.
Die Gestalt der Hockenden  löst sich nur zögernd aus dem Gestein des Sockels. Der Stein ist an manchen Stellen ungestaltet geblieben und füllt die Räume zwischen Rumpf und Gliedern. Die Oberflächen sind mit handwerklicher Sorgfalt behauen und geschliffen.

Man muss den Kopf der Hockenden betrachten, um zu wissen, was das heißt: der Stein lebt. Er scheint durch die Poren zu atmen. Die Übergänge vom Hals zur Schulter und vom Antlitz zu den Haaren sind weich, mit den leisesten Nuancen modelliert.
Weil aber die Gestaltung sich auch hier mit Andeutungen begnügt und dem Stein gleichsam das letzte Wort lässt, liegt über den Figuren ein Hauch von Unbestimmtheit, ein Schleier aus Licht und Dunst, hinter dem sie ihr Geheimnis bewahren.
Die Pastorale: zwei Figuren, zur Einheit zusammengeschlossen, ein Gebirge mit sanften Rundungen, Buchten und Hügeln, der Mythos von Mann und Frau.
Noch bildsamer, geschmeidiger als der Stein ist die Bronze. Für dieses Material entscheidet Scharff sich am häufigsten.

Bei der Bronze können die Formen sich runden und weich ineinanderfließen, sie ist glatt und schmiegsam, sie hat blanke, schimmernde Flächen, sie vermeidet scharfe Kanten und Geraden. Diese eigentümlichen, dem Gotisch-Hölzernen genau entgegengesetzten Merkmale kennzeichnen den Stil der Scharffschen Plastik. Sie sind keine äußeren Attribute. Sie sind wesenhaft, sie sind die Sache selbst.
Das Runde entspricht dem Ruhenden, und alle einzelnen Momente - Material und Gegenstand, die Haltung der Figur und die Idee der Dauer, das Gelassene und das Objektive - sind formal und geistig aufeinander bezogen.
Diese bildnerische Logik, diese ordnende Kraft ist allen Gestalten von Scharff gemeinsam, sie ist ihr Stil.
Immer aber ist der Stil, so klar und markant er auch in Erscheinung tritt, das Produkt aus Eigenem und Fremdem, aus dem, was der Künstler mitbringt und was ihm begegnet.
Edwin Scharff ist Süddeutscher. Seine Heimat ist die Landschaft zwischen Main und Donau -  eine heitere, gesegnete Landschaft, reich gegliedert, mehr plastisch als malerisch, alter Kulturboden, urban und katholisch, reich an Kirchen, Kruzifixen und Bildern der Heiligen. Neu-Ulm, seine Vaterstadt, ist so eng, daß sie ihn zwingt, das Weite zu suchen.
Mit fünfzehn Jahren ist er in München, um Maler zu werden, und es dauert sieben Jahre, bis er zum ersten mal modelliert, und weitere fünf Jahre, bis er sich endgültig für den Beruf des Bildhauers entscheidet.

Dass Scharff von der Malerei herkommt, ist häufig missdeutet worden. Man hat  -  bis zu den neuesten Publikationen über zeitgenössische Plastik, seine Skulpturen als ,malerisch‘ charakterisiert und eine stimmungshafte Weichheit in sie hinein gedeutet. Wahrscheinlich, weil man diese frühen Bilder heute kaum kennt und weil es bequem ist, von der malerischen Herkunft auf einen ,malerischen‘ Stil zu schließen.
In diesen Bildband wurden absichtlich einige frühe Bilder aufgenommen.
Sie zeigen, dass es sich in Wahrheit umgekehrt verhält: Männer und Pferde von 1911 und das Frauenbild von 1910 sind Vorbereitung und Ankündigung des Bildhauers. Die Figuren sind räumlich aufgefasst, sie drängen aus der Fläche, sie haben plastisches Volumen.
In den Gemälden sind alle Eigentümlichkeiten der Scharffschen Plastik wiederzufinden. (Man vergleiche das gemalte Pferd von 1911 mit dem Bronzereiter von 1950!)

Der große Eindruck der Münchner Jahre ist Hans von Marées. Er, der 1887, in Scharffs Geburtsjahr gestorben ist, wurde sein eigentlicher Lehrer. Schloß Schleißheim, wo die von Konrad Fiedler dem Bayerischen Staat gestifteten Bilder Marées damals provisorisch untergebracht waren, bedeutete ihm mehr als die Münchener Akademie.
Es war seine erste Begegnung mit dem ,Klassischen‘ in einer allerdings späten und sehr speziellen Ausprägung, mit Gestalten, die groß und ruhig, der Wirklichkeit seltsam entrückt, in einem mythischen Raume stehen.
Seit Italien weitet sich der Horizont nach Süden und in die abendländische Vergangenheit. Der Mediterrane Raum nimmt ihn auf, der Raum des Klassischen und seiner fortgesetzten Renaissance.

Bei jener ersten italienischen Reise fühlt der Neunzehnjährige sich ,wie ein Kreuzfahrer in Bethlehem‘. In der Sixtinischen Kapelle zeichnet er ,nach Michelangelo‘. Er sieht in Orvieto das  Jüngste Gericht von Signorelli, in Florenz die Medici-Gräber und die stilleren Skulpturen Donatellos. In Paris sieht er die erste Cézanne-Ausstellung. Im Prado kopiert er Velasquez. Er sieht romanische Kirchen und bretonische Kalvarienberge.
Bei einem zweiten Pariser Aufenthalt lernt er die Werke von Rodin und Maillol kennen. In München steht er den Künstlern des ,Blauen Reiter‘ nahe, ohne sich ihnen anzuschließen. Begegnungen und Erlebnisse seiner Lehr- und Wanderjahre, der unruhigen, gärenden, knisternden Jahre vor dem ersten Weltkrieg.
Und er setzt sich mit den beiden Strömungen auseinander, die für den damaligen Künstler umso faszinierender waren, weil sie ihren Zenit noch nicht erreicht hatten: mit dem Expressionismus und mit dem Kubismus.
Das Ekstatische, das Ausdrucksteigernde, das leidenschaftlich Bewegte expressiven Gestaltens ist seiner Konzeption so sehr entgegengesetzt, dass es - anders als bei Barlach und Lehmbruck - für sein Schaffen ohne Bedeutung bleiben muss.
Ebenso einleuchtend ist es, dass er für den Kubismus eine gewisse Bereitschaft mitbringt.
Die Betonung der reinen, geometrischen Form, das Wagnis, die menschliche Gestalt in klar gegliederte Architektur umzusetzen, das Kontrollierbare im Bau und in den Proportionen, auch ein gewisser Rationalismus kühler Latinität, der Natur und Zufall weitgehend ausschaltet (ein Protest gegen das Nordisch-Irrationale, gegen das Dumpfe, nur Gefühlte, Amorphe) -  das waren Tendenzen, die seiner Vorstellung entgegenkamen.
Scharff hat sie im Werk erprobt -  so gründlich, dass einige seiner frühen Figuren, von der Stehenden Frau  (1912) und der Frau mit erhobenem Arm (1913) bis zu der Sitzenden Frau (1919) gewissermaßen den deutschen Beitrag zum europäischen Kubismus repräsentieren.
Durchaus nicht alle Arbeiten aus diesen Jahren: neben den kubistischen stehen Werke wie der Junge Athlet, die Kleine Sitzende, die Sitzende Frau (Helene Ritscher), so dass man schon deswegen von einer kubistischen Schaffensperiode nicht sprechen kann.
Der Kubismus bleibt für Scharff Episode, ein Abenteuer, das geistige Abenteuer seiner Jugend. Es endet spätestens 1920, und es musste enden, weil Scharff bei allem Sinn für Form, Prägnanz und Tektonik die kubistische Doktrin, in der - zum erstenmal in der Kunstgeschichte - das rein Artistische zum Prinzip erhoben wird, nicht akzeptieren kann: kubistische Plastik erlaubt einzig den formalen Aspekt.

Scharff geht es jedoch um die Relation, um Spannung und Ausgleich zwischen Form und Gehalt. Er hat sich seit dem Ende der Münchener Jahre gerade mit den beiden Gebieten der Plastik intensiv beschäftigt, die formalistische Lösungen von vornherein ausschließen, weil sie an einen konkreten Inhalt und an eine reale Aufgabe gebunden sind: mit dem Denkmal und mit dem Porträt.
Scharff hat im Laufe der Jahre mehrere Denkmäler geplant. Nur das Ehrenmal für Neu-Ulm (I920-I932 aus den Steinen der abgebrochenen Festungsmauern errichtet) und die Rossebändiger  in Düsseldorf (1939 beendet) sind zur Ausführung gekommen.
Das Denkmal fordert den großen Maßstab, monumentale Wirkung, Einordnung der Figur in einen Gesamtplan, der den Raum, Architektur oder Landschaft, miteinbezieht.
Aber Scharff sieht die Aufgabe des Denkmals, des öffentlichen Monuments, noch größer und umfassender. Er will ihm seine ursprüngliche, kultische Funktion im Leben der Gemeinschaft wiedergeben.
Noch während seiner letzten Jahre arbeitet er an dem Plan, für Hamburg ein ,Wahrzeichen‘ zu schaffen: eine Stadtkrone, eine festliche Mitte, ein Forum, bei dessen Gestaltung Plastik, Architektur und Stadtplanung ineinandergreifen.
Und über dem großen freien Raum, der von durchlaufenden Treppen, Brüstungen, Sockeln und Skulpturen klar gegliedert wird, auf riesigem, nach oben verjüngtem Pfeiler die Drei Männer im Boot, die von den fächerartig auseinandergehenden Rudern überragt werden, ein gewaltiger plastischer Akzent, ein Ausrufungszeichen, das einfache und jedem verständliche Wahrzeichen einer Stadt am Wasser.

Auch das Porträt ist an eine konkrete Aufgabe gebunden, die die Freiheit des Bildhauers einschränkt und ein hohes Maß von Selbstverleugnung fordert. Es gilt, die Individualität des Dargestellten zu erfassen, ohne sich mit physiognomischer Ähnlichkeit zu begnügen oder eine rein psychologische Studie zu geben.
Kaum einer der neueren Bildhauer seit Rodin hat sich so intensiv mit dem Porträt befaßt wie Scharff.
Er hat vor allem Künstler, Gelehrte, Staatsmänner und Priester porträtiert; mit den meisten war er in jahrelanger Freundschaft verbunden, so daß ihm nicht nur die äußere Physiognomie genau vertraut war, sondern auch die geistige Welt, die der Betreffende repräsentierte. Heinrich Mann, ein Freund aus der Münchener Zeit, Heinrich Wöllflin, dessen Gelehrtengesicht mit dem unbestechlichen Auge er zweimal, in Bronze und in Granit, gestaltet hat (wobei im Stein die Details radikal vereinfacht werden und das Strenge, Zugespitzte, Gebietende dieses Gesichts endgültig formuliert wird), Max Liebermann, Lovis Corinth, schließlich die späten Porträts von
Emil Nolde, Bürgermeister Max Brauer, Kardinal Graf Galen
(bei dem Scharff den persönlichen Ausdruck kluger, kämpferischer Wachsamkeit in eine streng hieratische Allgemeinheit übergehen lässt): bei jedem dieser Bildnisse spürt man das individuelle Leben und die geistige Kraft, die sie ausstrahlen.
 
Und so sehr tritt der Bildhauer hinter den Porträtierten zurück, so sehr ist es ihm darum zu tun, in jedem Antlitz das Spezifische, das Einmalige und Unwiederholbare zu offenbaren, dass selbst die technische Behandlung von einem Porträt zum andern wechselt: große, klare Flächen bei Heinrich Mann; gemeißelte Grate und Kanten bei Liebermann; aufgerauhte, gekräuselte Oberflächen bei Bürgermeister Carl Petersen; eine schwer durchknetete, in Falten, Höcker und Buckel zergliederte Massigkeit bei Max Brauer; offene, schwingend bewegte Formen bei Corinth und eine verhüllende, zögernd verhaltene Modellierung bei Nolde.

Und doch bewahrt Scharff auch beim Porträt den Sinn für das Objektive. Er arbeitet gleichmäßig und von allen Seiten auf das Objekt hin, und er vermeidet es, bei aller Differenzierung das Charakteristische eines Gesichts durch Übersteigerung markanter Einzelzüge zu gewinnen.
Alle Einzelheiten - Augenausdruck, Mundpartie, Stirn und Kinn - bleiben in das Ganze eingeordnet. Scharff will das Gesicht nicht subjektiv deuten, sondern seine Wahrheit an den Tag bringen.
Er reduziert den Menschen auf sein Wesen; er stellt ihn dar in jenem Zustand höchster Konzentration, in dem er mit seinem Idealbild identisch wird.
Es war bisher ausschließlich von Rundskulpturen, den Statuen, Denkmälern und Porträts die Rede. Ganz andere bildnerische Möglichkeiten findet Scharff im Relief, eben jene Möglichkeiten, die das strenge statuarische Gesetz der Freiplastik verbietet.

Beim Relief kann die Figur, ohne Rücksicht auf ,Standfestigkeit‘, frei, ja ungestüm bewegt werden. Scharffs frühestes Relief die Tanzenden Frauen von 1912: zwei wirbelnde Spiralen, in einen Sturm der Bewegung hineingerissen.
Auch eröffnet die Vielzahl der Figuren, ihr Nebeneinander und Hintereinander auf einer Ebene, neue thematische, formale, kompositorische Möglichkeiten. Die Figuren sind nicht mehr isoliert, sie werden einander zugeordnet.
Ein Beispiel, wie Scharff die Fläche des Reliefs organisiert: die Bogenschützen, die nur ein Jahr später entstanden sind. Die beiden schrägen Horizontalen und die seitlichen Senkrechten bilden ein schwingendes Parallelogramm.
Die Bewegung wird nirgends unterbrochen, wird von einem Teil zum andern weitergeleitet. jede einzelne Form ist von dem gleichen Impuls geprägt, und der rhythmisch gegliederte Zug der liegenden, stehenden, sitzenden Gestalten kreist um eine freigelassene ruhige Mitte, ohne dass auch nur der Anschein von Gewaltsamkeit, von intellektueller Konstruktion erweckt wird.
Die Reliefs Reiter (1920) und Frauen am Meer (1927) - vor einem unregelmäßig aufgerauhten Hintergrund, in dem zum erstenmal eine Landschaft, Meer und Strand, angedeutet wird — haben die heitere Unbefangenheit der Antike.
Mutter mit Kind
(1925), unsentimental und vom Wust der Konvention befreit, die animalische Wildheit der  Badenden (Marmorrelief 1930), die Betroffenheit und das freudige Erschrecken der Hirten von Bethlehem (1946): Bilder eines aus mythischen Tiefen heraufsteigenden Lebens, bei denen die Grenze zwischen Antike und Christentum mühelos überspielt wird.

Eines der spätesten Reliefs, schon durch seine Maße aus allen herausgehoben, das letzte in der Reihe seiner Liebespaare, heißt  Ruth und Boas. Scharff hat sich jahrzehntelang mit dem Ruth und-Boas Thema beschäftigt; er hat ihm Zeit gelassen, sich langsam zu entwickeln, wie er das bei den großen Werken stets zu halten pflegte: sich dem Gegenstand von allen Seiten nähern, ihn liegenlassen und wiederaufnehmen, geduldig und ohne Hast daran arbeiten.
Die ersten Skizzen zu diesem Relief stammen vom Ende der zwanziger Jahre, 1950 war es vollendet. Die Zeichnung von 1940 ist eine der vielen Zwischenstationen. Die Unterschiede zwischen der Zeichnung und dem Relief erscheinen geringfügig: die Arme des Boas werden gedreht, ihre Proportionen geändert, der Körper wird gestreckt und zur durchgehenden, ruhenden Horizontalen abgewandelt, die Gewichte werden anders verteilt, und mit dem ,Tuch‘, das in der Zeichnung fehlt, werden Querverbindungen geschaffen, die das sanfte Gefälle der vom Kopf des Boas bis zu den Füßen der Ruth durchlaufenden Bewegung rhythmisch unterbrechen und weich ausklingen lassen.
Aber sie bringen die Komposition ins Gleichgewicht, sie geben ihr Ordnung und Halt; aus dem schwimmenden, zufälligen Spiel der Linien wird die klare, plastisch gestaltete Form.
Das Relief heißt jedoch nicht: ,Zwei liegende Akte‘, sondern Ruth und Boas. Die plastische Situation meint eine menschliche Situation, die Situation, die in der Bibel im Buch Ruth aufgeschrieben ist: »Da es nun Mitternacht ward, erschrak der Mann und erschütterte; und siehe, ein Weib lag zu seinen Füßen.
Aus der dramatisch bewegten Geschichte zwischen der schönen Ährenleserin und dem Herrn des Ackers hat Scharff den stillsten Augenblick gewählt, das Erwachen um Mitternacht, und er wendet ihn ins Allgemeine. Er stellt nicht mehr die Situation der Bibel dar, in der Ruth und Boas sich begegnen, sondern die ,erschütternde‘ Erfahrung des in der Nacht erwachenden Mannes: seine Einsamkeit, die Unerfüllbarkeit der Wünsche, das schwermütige Glück des Entsagens und die Bereitschaft, sich mit den eigenen Grenzen abzufinden.

So wäre andeutungsweise Scharffs Vorliebe für biblische und mythologische Themen zu erklären: er entdeckt am überlieferten ,mythischen‘ Gegenstand das Unverbrauchte, die Wahrheit, die jeden angeht; er hebt ihn in eine Sphäre, in der ,Einst‘ und, Jetzt‘ vertauschbar werden, in die Sphäre der ,ruhenden Zeit‘.

Im Relief hat sich Scharff - von den frühesten Arbeiten bis zu Ruth und Boas  - am persönlichsten, am unmittelbarsten ausgesprochen. Und mit den Reliefs der Marienthaler Kirchentür (1945/49) hat er schließlich sein größtes Werk geschaffen: eine Darstellung des Credo.

Das christliche Glaubensbekenntnis bedeutet die Tür, durch die der Mensch in den Raum der Kirche tritt - eine einfache Symbolik, einleuchtend wie die Kreuzform des Türgriffs, wie das ,Band‘, das die einzelnen Medaillons umgrenzt und verbindet und den Betrachter von einem Bild zum nächsten leitet. In doppelten Schlaufen läuft es auf dem linken Türflügel von oben nach unten und steigt auf dem rechten Türflügel nach oben, bis es im ,Amen‘, dem einzigen , Wort‘, endet.

Die Bilder halten sich an den Text des Credo, nur fassen sie die Worte anders zusammen, damit die Medaillons sich in den Rhythmus von Abstieg und Aufstieg einfügen. Das ,Hinab‘ beginnt mit den Passionsbildern und führt in die Tiefe des ,Abgestiegen in das Totenreich‘, während in dem Feld daneben die Gestalt des Auferstandenen den Strom der Bewegung nach oben lenkt und sie mit dem aufwärts gestreckten Arm in das Bild der Himmelfahrt hinüberleitet.
Die Darstellung hat die kühle, distanzierende Sachlichkeit eines Berichts, der die Ereignisse ohne Kommentar und ohne schmückendes Beiwerk wiedergibt. Sie übt Zurückhaltung, Mäßigung, jene thomasische Kardinaltugend der ,temperantia‘, womit der Sinn für Maß und Zucht, für das ,Schickliche‘ gemeint ist. Die formale
Gestaltung, die bis in die letzte Einzelheit der Modellierung den unverwechselbaren Stil der Scharffschen Plastik zeigt, bleibt an den Gegenstand, an die Wahrheit gebunden.
Wer sich in die Betrachtung der einzelnen Bilder und Glaubensartikel vertieft, wird gleichsam von der Form her in die Wahrheit geleitet. Die Falten im Mantel des Schöpfers gehen, als Fächer gebildet, wie Strahlen von Kraft über das rahmende Band. Das Bild der Empfängnis: eine große Gebärde sich öffnender Bereitschaft.
Der Schmerzensmann: durch starre Kanten und Geraden eingeengt. Die Grablegung: ein sich schließender Ring der Trauer. Die Gemeinschaft der Heiligen, drei freudig bewegte Gestalten, treten zu einem Gefäß, zu einem Kelch der Gnade zusammen. Im Bild der Sündenvergebung beugt sich die priesterliche Strenge mit einer Gebärde des Segens zu der knienden Gestalt.
Auferstehung des Fleisches: ein Aufschwung, eine mächtige Entfaltung der Formen, die von der Mitte her den ganzen Kreis mit frohlockendem Brausen erfüllt. Tradition und Gegenwart - in der Marienthaler Kirchentür hat Scharff das alte Thema des christlichen Glaubens neu dargestellt. Sein Werk steht in der Tradition, in der ,klassischen‘ Tradition, die Maß und Haltung, das objektiv Gültige in der plastischen Gestalt zur Anschauung bringt. Und Tradition heißt für Edwin Scharff: Überliefertes schöpferisch entwickeln und in Werk und Lehre weitergeben.
Am Anfang und am Ende dieses Buches stehen Zeichnungen, ausgewählt aus dem gewaltigen, bisher noch kaum gesichteten graphischen Oeuvre, das Scharff hinterlassen hat. Es sind einzelne Blätter aus einem lebenslangen Tagebuch, in dem Scharff alles ihn Bewegende, seine Beobachtungen, seine Einfälle, seine Visionen aufgezeichnet hat. Sie haben das Erregende einer ersten Fixierung, sie sind wie in atemloser Eile unter dem Zwang der Eingebung niedergeschrieben.
Aber der Duktus der Linie ist so knapp, so sicher, so mühelos, dass nirgends der Eindruck des Ungelösten, des Fragmentarischen, des Provisorischen entsteht. Scharffs Zeichnungen sind keine ,Studien‘, die ein bestimmtes plastisches Werk vorbereiten sollen. Sie bestehen für sich und unabhängig davon, ob sie später in Stein oder Bronze, als Relief oder als Rundskulptur ,ausgeführt‘ werden.
Sie gehen über den Begriff der Bildhauerzeichnung im strengen Sinne weit hinaus, obgleich die Zeichnung den Gegenstand immer plastisch erfasst und durch perspektivische Verkürzungen, durch modellierende Schatten und das Ineinanderspielen zarter und kräftiger Konturen die primäre räumliche Vorstellung realisiert.
In seinen Zeichnungen hat Scharff sich ein riesiges Reservoir an Formen, Gestalten und Motiven geschaffen, ein Reservoir, das der Bildhauer in einem ganzen Leben nicht auszuschöpfen vermag. Sie enthalten das gesamte plastische Werk — im Stadium des Entwurfs, wobei ,Entwurf‘ nicht die mindere, ergänzungsbedürftige Form meint, sondern die Frühform, die dem schöpferischen Augenblick am nächsten ist.
Die Zeichnungen der Bogenschützen und des Liebespaares sind derartige ,Vorwürfe‘ für die späteren Reliefs. Bei anderen, mit breitem Pinsel getuschten Zeichnungen wie dem Tanzenden Paar von 1949 wird die Vorstellung des Reliefs wachgerufen, ohne daß es später zur Ausführung kam.
Die schöpferische, entwerfende Kraft der Zeichnung offenbart sich gerade bei den vielen bewegten Akten, bei den Tänzerinnen, Pferden und Reitern, bei allen jenen Blättern, die aus intensiver Beobachtung ,vor der Natur‘ entstanden sind.
Schon beim Akt des Anschauens wird der Gegenstand künstlerisch verwandelt; die Linien der Zeichnung wollen ihn nicht nachbilden, sondern neu erschaffen. Nur der Grad der Umwandlung wechselt. Es gibt Blätter, die der äußeren Erscheinung nahe bleiben, die sich damit begnügen, eine schwingende Arabeske für das Wirkliche zu finden.

 Am radikalsten geschieht die Verwandlung bei den frühen Zeichnungen der Münchener Jahre, bei dem Paar von1917, bei den Männern im Boot  von 1918. Dort werden die Figuren in lang gezogene Ovale und spitze Dreiecke aufgelöst (kubistische Tendenzen, die in den gleichzeitig entstandenen Skulpturen wiederkehren).
In den späten Zeichnungen, die den Band beschließen, erscheint diese verwandelnde Kraft sehr vergeistigt und in der Unerbittlichkeit letzter künstlerischer Entscheidungen. Sie sind wie ein Abschied von dem sinnlich - leiblichen Zauber der sichtbaren Welt, ein großes und ernstes ,Garne Vale‘ Ihre starken, in sich kreisenden Konturen umschreiben und preisen nicht die äußere Erscheinung, sondern sie deuten ihr Wesen. Und sie bringen am klarsten zum Ausdruck, was Scharff unter Zeichnen verstand: in äußeren Konturen die innere Struktur nachziehen, Zeichen setzen für das, was die Dinge meinen — oder was die Schöpfung mit ihnen gemeint hat.