Zum Tode Edwin Scharff (aus "Die Zeit" vom 02. Juni 1955)

von Günther Sawatzki

Das Begräbnis Edwin Scharffs ist vorüber. Schüler trugen seinen Sarg dem langen Zug voran durch die Waldalleen und Wiesenblicke des Ohlsdorfer Friedhofs — ein Trost für die Augen, denen immer noch das Antlitz des Toten vorschwebte, stolz und fromm.
Edwin Scharff war ein Schwabe, auch ihm waren die spaßhaft verschmitzten Züge eingemischt, und er genoß sie. Er befand sich aber und blieb ganz im Bereich des gebildet Urtümlichen, will sagen: was er tat und sprach, war immer am ursprünglichen Anfang der Kultur, an jener heiligen Schwelle, wo das Tier noch paradiesisch nah ist — nicht jedes Tier freilich, aber das edle, dem Menschen zugetane Tier, das sich im Dienst an ihm erhöht.
Es war immer Schöpferlust in ihm - und dabei niemals Hochmut. Freilich wußte er, wie eine Figur stehen mußte, gehen und aufrecht sich halten; er haßte das Falsche, und im Mittelmaß hatte er viele Feinde. Das gehört zur Bestimmung der Größe. Aber er ließ weit und breit das Gute gelten, das durchgeformt Sonderliche, Eigenartige —: hätte er sonst der beste Porträtist unter den Bildhauern sein können?
Wölfflin, so kühn und streng, Nolde, so querköpfig genial, Corinth, ein aufgerissenes Antlitz, aufgerissen fürs Schauen, Carl Petersen, mit der die Welt durchplanenden Umsicht, Helene Ritscher, seine Frau, nach Wahrheit witternd, Max Brauer, mit der vom Spiel der Fältchen belebten, unbefangenen Massigkeit, der Energie des Ensembles von Nase, Augen und Kinn, Max Liebermann, mit jener schwingenden Schärfe der Grate an Brauen und Schläfen, die jeden Einzelzug eines Gesichts endgültig ins Ganze birgt, und den Kampftrotz und die wachsam spähende Sicherheit Kardinal Graf Galens —: so einmalig ist ein jeder, daß man sich schon der Galerie, der Aufzählung schämt.
Aber nun wir zu den Statuen übergehen, denen Scharff so oft zu vollkommenen Leibern knospenhaft unentfaltete Köpfe gab — vielen ein Ärgernis und ein Hindernis, aufs Wesentliche zu schauen —, nun erhebt sich die Frage, wie sich denn das in ihm zu einer solchen bruchlosen Einigkeit fand: entfliehendes Leben und bleibende Gestalt? Er hat ja doch nie an der Vergänglichkeit des Schönen gezweifelt. Woher also diese Kraft, das in diesem Augenblick Vollkommene in seiner Vollkommenheit festzuhalten?
Schaut man seine Figuren an, entdeckt man allmählich, daß diese Gestalten schon aus der Erde auferstanden sind, wenngleich abermals sterblich. So sah ich die Köre von 1926: also das Mädchen, Name der Griechen für Persephone, die aus der Unterwelt wieder Heraufsteigende, die Augen noch nachtblind, erloschen, aber still wie im Traum schreitend zur sicheren Heimkehr ins Licht. Das ist eine Terrakotta: wo also die Konturen noch das Unbeholfene des Irdischen haben, dies Hökkerige, aus Erde Gemachte, das den Blick erschauern läßt. Immer hat Scharff dunkle Figuren geschaffen und ins Licht gehalten: dies Herauswachsen der Anmut aus Erde; Stein und Erz bleibt bei ihm rätselhaft; das Rätsel dieses Kommens aus der Dunkelheit zum Urlaub im Licht wird nie durch Glätte verdeckt.
Auch in seinen großen Bronzen nicht, wo die Gestalt immer noch in der Erde wurzelt, und das Licht hat sich nur ruhig darauf niedergelassen, zart, nie zärtlich, nie mit einem Finger oder einem Strahl darüberhinstreichend, immer mit der vollen, fühlenden Hand. Vielleicht ist die „Pandora" von 1952 unter den vollendeten Werken dieser Art das deutlichstet wie so viele Frauengestalten Scharffs, hat sie die Hände rücklings verschränkt, so daß man ganz das Augenglück genießen kann, der sanft gespannten Kontur von den Füßen über Schenkel, Hüften und Brüste aufwärts zu folgen.
Manche meinen, Scharff habe, seit er begann, keine Entwicklung durchgemacht. Nein, aber eine Entfaltung: wenn man mit dieser „Pandora" sein erstes großes Werk, den „Jungen Athleten", vergleicht, sieht man es: so meisterhaft das Stehen beherrscht ist, sind doch Brust und Schultern des Mannes noch nicht frei; die Haltung „zeigt" noch etwas, das in der Figur allein nicht absichtlos beschlossen liegt. Diese Mühe des Aufzeigens ist später der Sicherheit des Ausstrahlens gewichen.
Sollen wir Werknamen häufen? Der innigen Liebespaare wenigstens noch gedenken, die in den Traum des Daseins versunken sind? Der vielen Reiterfiguren, in denen sich die Einebnung des Absichtlichen Jahr um Jahr schöner vollendet, bis Mann und Tier auf das Entschiedenste und Selbstverständlichste eines sind, bis die Gegenwart des uralten Lebens selber herrlich aufsteigt, von den Hufen und der Schweifspitze über den gebogenen Nacken des Pferdes zu den geblähten Nüstern, und der Mann, der Herr, um Grade kühler, aufatmend diesen Augenblick besonnener Vollkommenheit genießt?
Größe heißt bei Edwin Scharff: den Gesetzen des Daseins entsprechen, der Herkunft aus der Nacht und des Untergangs gewiß, aber gewiß auch dieses Trostes der ewigen Anschauung, daß immer wieder einmal dies Schöne, Feste, Blühende so Gestalt werden wird, wie es erschaffen worden ist, als verheißende Wiederholung des ernsten ewigen Spiels der Schöpfung.



Scharff, Edwin    1887 - 1955    Bildhauer u. Maler    Grabstätte: BV60 (189-190)